Nichts ist schwer, bist Du nur leicht – ein Weihnachtsgedanke
(Text: Br. Bernd Kober)
Viele treibt die Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach Aufatmen, nach neuer Aussicht und Perspektive. Das hat viel mit Weihnachten zu tun, sagt Br. Bernd Kober aus Frankfurt in seinem Impuls.
“Der Engel aber sagte zu ihnen:
Fürchtet euch nicht, denn seht,
ich verkünde euch eine große Freude,
die allem Volk zuteil werden soll.”
Nicht jeder hat ein Flugzeug im Garten geparkt. Das ist doch eher ungewöhnlich. Während meiner Exerzitien im November dieses Jahres ging ich täglich spazieren. Vor der Terrasse eines Hauses mit großem Garten, an dem ich vorbeikam, stand ein Sportflugzeug. Es muss ein ziemlicher Aufwand gewesen sein, es zwischen den Hecken und Bäumen, die dort auch standen, an seinen Platz zu manövrieren. Mehr als die Frage, wie es dorthin kam, bewegte mich allerdings der Gedanke, warum es dort wohl stehen mag. Das Haus auf dem Grundstück ist eine Villa, wahrscheinlich um 1950 dort errichtet und mittlerweile in die Jahre gekommen. Vielleicht ist das Flugzeug Erinnerung an vergangene Tage, eine Erinnerung eines leidenschaftlichen Sportpiloten, der nie mehr in dieses Flugzeug einsteigen und sich gleichsam schwerelos am Himmel bewegen wird. Oder es erinnert an einen geliebten Menschen. Sicher leben in diesem doch auffälligen Erinnerungsstück viele vergangene Geschichten und Erfahrungen.
Vom Himmel auf die Erde, vielleicht auf das eigene Haus, den eigenen Heimatort oder auch auf fremde Länder herabsehen fasziniert Menschen seit jeher. Das Fliegen übt eine eigene Anziehungskraft aus auf den Menschen – bis hin zu den faszinierenden, eindrücklichen Bildern unseres Planeten Erde, die durch die Raumfahrt möglich wurden. Neue Perspektiven wecken neue Fragen und können neue Einsichten schaffen. Viel Sehnsucht kann in einem so geparkten Sportflugzeug wohnen.
Weihnachten hat auch mit dem Fliegen zu tun. Denn Engel haben ja bekanntlich Flügel. Zumindest haben sie diese Flügel schnell bekommen, als man versuchte, sie mehr oder weniger naiv darzustellen. Weihnachten ohne Engel – das ist für manche Zeitgenossen, und auch für gläubige Christinnen und Christen, fast nicht vorstellbar. Wie der Stern, das Licht, der Weihnachtsbaum gehören auch Engel zur Grundausrüstung des Weihnachtsfestes. Und ein Engel fliegt. Die Engel, die auf den Fluren von Bethlehem den Hirten die Geburt des Retters verkündeten und dann singend Gott priesen – sie müssen fliegend an Ort und Stelle gekommen sein.
Engel sind leicht. Sie überwinden die Schwerkraft. Und das ist nicht nur die Sehnsucht des Sportpiloten. Es ist eine Grundsehnsucht des Menschen, die Schwerkraft zu überwinden. Die Engel bringen die Hoffnung auf Leichtigkeit und auf neue, staunen machende Perspektiven. Deshalb haben sie Flügel – anders aber doch auch ähnlich wie dieses Sportflugzeug. Flügel tragen, Tragflügel der Hoffnung: wer abhebt, gewinnt plötzlich Weitblick und Übersicht. Was auf dem Boden hockend wie eine unüberwindliche Grenze aussah, ist es plötzlich nicht mehr. Engel haben wesentlich mit Weihnachten zu tun.
Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.
Der Lyriker Richard Dehmel formuliert in einem seiner Gedichte vor gut einhundert Jahren dieses Wort. Vielleicht sagen wir: der hat gut reden. Weiß er denn, was ich im Moment zu tragen habe, was ich im jetzt zuende gehenden Jahr tragen musste und wie ich mich jetzt hinüberschleppe? Ich glaube, Dehmel formuliert nicht leichtfertig. Als ernsthafter Lyriker wusste er um die Schwere menschlicher Existenz. Und er wusste um die Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach dem Aufatmen, nach neuer Aussicht und Perspektive. Was kann es heißen, leicht zu sein – ohne leichtfertig über Lebenserfahrungen hinweg zu gehen und in falscher Sorglosigkeit Fragen vom Tisch zu wischen? Auch der Flieger muss wieder Bodenhaftung bekommen und landen – und auch die schönsten Engelsflügel verschwinden wieder mit Beginn des neuen Jahres aus Wohnzimmern und Schaufenstern. Die Leichtigkeit, um die es hier geht, hat meines Erachtens mit dem Weihnachtsgeheimnis zu tun. Und sie hat mit der Hoffnung zu tun, die uns leicht machen kann – eine Hoffnung, die auch jenseits des Weihnachtsrummels Kraft behalten soll. Wäre dem nicht so, wäre das Weihnachtsfest eine wenige Stunden oder Tage dauernde Weltflucht. Es wäre sinnlos.
Ein Kind ist leicht.
Freilich wissen Eltern, wie schnell das Kind wächst und irgendwann das Tragen mühsamer wird. Aber ein Kind ist Leichtigkeit. Gott kommt als Kind. Er kommt nicht mit gewaltig schwerem Tritt daher. In der Christnacht lesen wir aus dem Buch Jesaja, dass ein Licht aufgeht. Und mit dem aufstrahlenden Licht wird Jubel laut. Und Freude greift um sich. Menschen freuen sich, weil eine Last von ihren Schultern genommen wird, sie werden vom Joch befreit. Es geschieht etwas leises, leichtes, das stärker und durchdringender ist als „dröhnend auftretende Stiefel“ marschierender Soldaten: Ein Kind ist uns geboren! Ein leichtes Kind – aber kein Leichtgewicht. Ein Kind mit einer weiten Perspektive und einer großen Hoffnung. Und diese Leichtigkeit des weiten Blicks und der Hoffnung auf Zukunft behält dieses Kind, auch wenn es erwachsen wird. Diese Leichtigkeit, weiter zu sehen, weiter zu gehen und weiter zu hoffen lässt sich dieses Kind Gottes nicht nehmen. Nichts ist schwer, sind wir nur leicht – dieses Wort scheint ein Wort zu sein, dass mit diesem Kind zu tun haben kann. Und es scheint ein Wort zu sein, das mit der Botschaft zu tun hat, die dieses Kind bringt und verkörpert mit Fleisch und Blut.
Botschaft klingt nach Inhalt. Das trifft aber nicht gut, worum es hier geht. Es geht um keinen Inhalt, um keine Sache. Es geht um mehr. Hier wird das Wort Gottes Mensch und Fleisch, ein Wort, das nur schwer in Worte zu fassen ist – viel besser in Begegnungen, Gesten, Blicke, Taten. Dieses Wort ist Leben, lebendiges Leben. Es ist leicht im Schweren und will im Schweren erleichtern: dem Schuldigen sagt es, du bist geliebt und nicht abgeschrieben und festgenagelt auf deine lieblosen Misserfolge. Den Außenseiter, den die Ausgrenzung lähmt, holt es aufmerksam in die Mitte. Den Perspektivlosen macht es sehend. Jeden Menschen will es spüren lassen: du hast keinen berechenbaren Wert, weil du etwas leistest und kannst – du hast vielmehr eine Würde. Das erleichtert! Und diese Würde beginnt im ersten Augenblick des Daseins, da du noch ganz angewiesen und alleine lebensunfähig bist – und sie gilt auch, wenn du wieder ganz angewiesen und alleine lebensunfähig bist und dem Tod entgegengehst. Würde musst du nicht verdienen – sie ist dir geschenkt. Dieses lebendig-leichte Wort schützt alles Schwache vor dem schweren gewalttätigen Zugriff jener, die den Menschen zur bloßen Ressource und zu einem Kostenfaktor degradieren.
Die Leichtigkeit dieses Christuskindes will das Gebeugte aufrichten und die Augen für eine gute Zukunft sehend machen. Die Botschaft dieses Gottessohnes will eine neue Perspektive schenken – mit Überblick. Nicht nur der eigene Vorgarten und die engen Grenzen einer kleinbürgerlich sauber geschnittenen Hecke oder Gemeinde oder Konfession oder eines Klosters sind Raum der Lebendigkeit, um die es hier geht. Die Botschaft des Gottesreiches ist eine grenzenlose. Da muss es Durchlässe und Einlässe, Ausblicke und Überblicke geben, die den Menschen bewegen. Und beweglich ist der Leichtgewordene, der sein Marschgepäck – wie auf dem Jakobsweg – gut bemisst und Nichtnotwendiges abwirft. Ist das Gepäck zu schwer, bleibt er oder sie stets in ihren Grenzen und schafft den Weg hinüber nicht. Diese Leichtigkeit ist Bedingung des Lebens mit dem Christuskind, Bedingung jeder Christusnachfolge und das Lebensgesetz des Reiches Gottes, das Jesus verkündet. Nur mit dieser Beweglichkeit wird auch das Schwere bewältigt. Und es wird dann gemeinsam, miteinander bewältigt, weil der Mensch auf den Menschen zugeht und nicht hocken bleibt in seiner einsamen Schwere. Geschwisterlichkeit entsteht unter diesem Grundgesetz der Leichtigkeit Christi.
Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.
Aus diesem Grund gehören die geflügelten Wesen zum Weihnachtsfest. Sie sind ein Fingerzeig, ein Hinweis auf die Mitte dieses Festes. Abheben, aufbrechen, Wege gehen mit Christus und mit der Frohen Botschaft die Leichtigkeit entdecken – gegen alle Angst, die nach unten zieht.
Dass es hierzu den Zuspruch der Flügelwesen braucht: Fürchtet euch nicht!, das ist schnell einzusehen. Denn sosehr wir uns danach sehnen, nicht bei uns selbst sitzen zu bleiben, so sehr fürchten wir hier und da die Kraft der Begegnung und des Miteinanders. Wir wissen sehr genau: Begegnungen verändern uns, wenn sie tief und echt sind. Aber sie sind Bedingung dafür, dass der Friede wächst, der Flügel verleiht.
Gott ist leicht, bewegt und verlässt sich auf uns hin. Wir können Frieden haben mit ihm. Das ist sein tiefster Weihnachtswunsch. Und: wir können mit ihm leicht werden, Botinnen und Boten dieses Friedens sein. Und Boten sind Engel – leicht und geflügelt.
Der Beitrag ist zuerst auf der Homepage der Deutschen Kapuzinerprovinz erschienen. Dort können Sie sich auch das Magazin der Kapuziner cap! nach Hause bestellen oder als PDF herunterladen.
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