ALLES IN ALLEM
Größer, schneller, reicher?
Ein Beitrag von Br. Paulus Terwitte
ALLES IN ALLEM
Größer, schneller, reicher? Die Krise hat unsere Ansprüche und Lebensweise auf die Probe gestellt und uns gelehrt zu verzichten. Das dient nicht nur dem
Gemeinwohl, sondern bringt uns selbst mehr Freiheit, Glück und Zufriedenheit.
Die Welt im Verzichtsmodus
Wer hätte das gedacht: Die Welt ist im Verzichtsmodus. Der Shutdown hat alle getroffen. Angst brachte das Räderwerk der Wirtschaft, Kultur und der Lebensplanung zum Erliegen. Jetzt ist die Chance für einen Reset. Doch wird die Corona-Krise unsere Lebensweise grundlegend verändern?
„Die Natur sendet uns mit dem Virus und der anhaltenden Klimakrise eine Botschaft“, sagt Inger Andersen, Umweltchefin der Vereinten Nationen. Jahrzehntelang haben wir unseren übergroßen Appetit gestillt, indem wir industrielle Aktivitäten auf eine immer größere Fläche des Planeten ausdehnten und wilde Arten zwangen, sich mit uns in den verbleibenden Lebensräumen zu rängen. Das hat dazu geführt, dass tierische Mikroben in den menschlichen Körper eindringen und Epidemien auslösen konnten. Für den amerikanischen Kulturphilosophen Charles Eisenstein ist Covid-19 wie eine Reha-Intervention: „Wenn die Krise abklingt, könnten wir uns fragen, ob wir zur Normalität zurückkehren wollen oder ob wir während dieser Unterbrechung etwas gefunden haben, das wir in die Zukunft mitnehmen wollen. Nachdem so viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben, könnten wir überlegen, ob es sich in allen Fällen um Jobs handelt, die die Welt am meisten
braucht, oder ob unsere Fähigkeiten anderswo besser eingesetzt werden könnten. Wir könnten uns auch fragen, nachdem wir darauf verzichtet haben, ob wir so viele Flugreisen, Disney-World-Urlaube oder Messen wirklich brauchen.“
Der Verzicht hat vielle Facetten
Der Verzicht um des besseren Lebens willen hat viele Facetten. In einer Welt, in der man sich vom Vielen verlocken lässt, bricht sich die beglückende Erkenntnis Bahn: In allem, was möglich ist, findet man eben nicht das, was man für „alles“ hält. Es macht höchstens neugierig: Es muss mehr geben – etwas, das mich meine Freiheit gebrauchen lässt, sodass der Durst nach Zufriedenheit gestillt wird. Es geht nicht um das Etwas von allem, sondern um das Etwas in allem.
Die Märchenbücher dieser Welt sind voll von Reisenden, die die ganze Welt haben wollen. Am Ende landen sie bei sich daheim. Der Fischer und seine Frau, Hans im Glück und Aschenputtel nehmen jene an die Hand, die auf die unerreichbare Fülle schauen, und lehren das Glück des einfachen Lebens. Eines, das nicht gekauft werden kann. Das über dem „Alles“ steht, das man haben wollte. Das einem zufällt oder errungen werden kann.
Das Lied vom Glück
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort
Und die Welt hebt an zu singen
Triffst du nur das Zauberwort
„Wünschelrute“ Romantisch, düster und philosophisch zugleich: das kurze Gedicht, das Joseph von Eichendorff 1835 schrieb
Vielleicht weckt wie beim Dichter Joseph von Eichendorff ein Zauberwort dieses Lied vom Glück, das in allen Dingen schläft. Als Mann im Kloster bin ich einer der Glücklichen, denen dieses Lied zu Herzen gegangen ist. Im Blick auf die Träume meiner Mitschüler vor dem Abitur war mir klar: Ich will mich nicht dem Diktat unterwerfen, möglichst viel im Leben zu erreichen. Mir war klar, dass das Leben mich erreicht hat. Ob ich einen Apfel esse oder ein Sternemenü – in allem ist das gleiche Glück. In einen Orden einzutreten, war für mich die größte Freiheit. Vor lauter Fülle, die ich erfahren hatte, konnte ich gar nicht anders. Ich wollte ohne Eigentum leben, in keuscher Ehelosigkeit und in Gehorsam. Besitz oder Beziehung verlockten mich weniger als die Aussicht, dem Glück selbst nahe zu sein, das darin zu finden ist. Für mich ist das keine Großtat, sondern eine Konsequenz aus meinem Zugang zum Sinn und Zweck von allem.
Durst nach wahrem Glück
Ich lese jetzt von „Purpose“ als Mittel der Mitarbeitermotivation. Wenn nicht klar ist, wozu ich arbeite und wozu ich lebe, wozu es das alles gibt, was möglich ist: Wozu dann überhaupt arbeiten und leben? Um es gemacht zu haben? Die dritte Reise, das vierte Auto, der nächste Lebens(abschnitts)partner? Ich bin nicht gegen neue Entscheidungen. Alte Versprechen muss ich womöglich brechen, Lebensentwürfe können scheitern. Aber der Durst nach dem wahren Glück wird so nicht gestillt. Es gilt zu erkennen: In allem ist ein Fehler. Ich muss mich selbst mitnehmen zu den schönsten Orten; dort wird es Aufbauendes und Niederschmetterndes geben. Nur wer das Glück schon in sich trägt, kann es hin und wieder auch erleben in dem, was ihm möglich
ist an Leben.
Der Verzicht als logische Folge von Sinn und Zweck des Lebens
Verzichten ist die logische Folge der Erfahrung von Sinn und Zweck des eigenen Lebens. Der junge Mann, der sich verliebt hat, verzichtet plötzlich auf Partynächte. Wer seinen Körper als Geschenk erlebt, achtet auf maßvolles Essen, genügend Bewegung und ausreichend Schlaf. Ich persönlich verzichte auf viele Termine – um der Freizeit, des Gebets und der Ruhe willen. Wer verzichtet, hat sich entschieden. Für ihn ist nicht der Konsum der Möglichkeiten der Weg zum Glück. Sondern die Freiheit, sie zu verneinen.
Ob der Shutdown Lust auf weniger machen wird? Oder wird nach diesem Reset alles einfach wieder ungezügelt hochgefahren? Jedenfalls ist in den Blick geraten, dass man mit weniger immer noch einander hat. Dass dies ein Glück ist. Dass uns alles geschenkt ist. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, erkannte der Theologe und Urwalddoktor Albert Schweitzer. Das „Alles“ ist in dir. Im Kloster singen wir: „Du bist unser Gott und unser Alles. Wer so nicht beten kann, trinke frisches Wasser, beiße in ein Brot, reiche dem Nächsten die Hand und erfahre, dass es kaum mehr braucht zum Leben.“
Erschienen als Essay im S-Magazin Sommer 2020 und im Liebfrauenmagazin Sommer 2020/15